17. Dezember 2019 Dichter
Muanis Sinanović (1989) ist Dichter, Essayist, Kritiker und Herausgeber. Er veröffentlichte drei Gedichtbände (für den ersten erhielt er den Preis des besten Erstlingswerks des Jahres) und ein Buch mit experimentellen Prosatexten. Der Verein SKC Danilo Kiš gab ein Buch mit der zweisprachigen, slowenisch-serbischen Auswahl seiner Poesie heraus. Die Gedichte wurden in acht Sprachen publiziert und in die tschechische und griechische Anthologie der jungen slowenischen Poesie sowie die englische Anthologie der europäischen Poesie eingegliedert. Er trat mit Lesungen an bedeutenderen heimischen und regionalen Festivals sowie in verschiedenen europäischen Städten auf.




UNTER DEM BERG

Jede Nacht klettern unsere Doppelgänger auf den Berg. Sie wollen der Zeremonie
beiwohnen. Sie hören die Glöckchen der Schafe klingen, die unruhig auf den Lichtungen
herumlungern. Wir sitzen in Bars oder daheim. Nacht für Nacht klettern unsere
Doppelgänger auf den Berg, aber wir wissen es nicht. Sie spähen den grünlichen
Glühwürmchen nach. Sie wandern an Berghütten mit beleuchteten Fenstern vorbei. Sie
wissen nicht, ob sie gastfreundlich sind oder nicht. Hinter den Wänden herrscht
Schweigen. Zuweilen kommt es uns inmitten der nächtlichen Gespräche so vor, als sei
da noch jemand in unseren Zimmern. Jede Nacht schreien die Doppelgänger vom
Berg, dass es keine Zeremonie gibt. Ihre Stimmen verweht der Wind.


DER GRUNDRISS

Ich kam zu einer Brandstätte.
Abgebranntes Gras. Dazwischen ein Clown-Näschen.
Ein Vogel unbekannten Namens sang
an der Spitze des verkohlten Balkens.
Es schien mir, dass sich an der Stelle
des zerstörten Hauses einst eine Kreuzung befand.

Ich kannte die Codes,
die die Türe des Irrgartens öffnen.
Im hintersten Zimmer befand sich der Täter. Lang war ich unterwegs.
Nach und nach merkte ich,
dass es immer heißer wird.
Unruhig widerstrebten meine Beine.
Auf ihnen ging jemand anders.

Der Irrgarten begann zusammenzubrechen.
Rundherum war ich von Flammen umgeben.
Dort, wo sich das Zimmer des Täters befand,
stand ich selbst.

Der Vogel erhob sich vom Balken.


DER KAFFEE

den ganzen Tag lang war der Himmel gleichmäßig
grau. wie vor Gewitter. aber das Gewitter kam nicht.
nur ein sehr spärliches, aber beständiges Tröpfeln, als ob
oben ein nasses Tuch ausgehängt wäre. jede Stunde
fielen ein paar kleine Tropfen nieder. wir wachten in Zyklen auf
und im Wohnzimmer stand jedes Mal ein blauer Bildschirm
mit der Aufschrift: kein Signal. wir warteten auf etwas,
was nach Jahrzehnten eintrifft. etwas Furchtbares,
was unsere Leben vollkommen verändern sollte.
wir wussten, dass einige bis dahin sterben würden.
wir vernahmen einzelne Schreie, Befehle und Ortswechsel.
das war die Schlacht, die der Himmel gegen uns schlug.
er belagerte uns langsam und bereitete eine Umzingelung.
der Wind schlug lärmend mit den Fenster und Türen.

am Abend kam endlich das Gewitter nieder und wir nahmen das Frühstück
ein. dann sagten wir einander Gute Nacht
und gingen in die Betten, denn wir mussten früh
am Morgen zur Arbeit.

am nächsten Tag stellten wir fest, dass wir alle
von reißenden Flüssen aus starkem Kaffee träumten, dessen Duft
das ganze Tal erfüllte.


DAS FENSTER

Es war ein Fenster.
Es war das Bild, das sich die Sonne
ansah.

Es war der Blick, der sich auftat.
Man konnte es betreten
und versuchen, an das Ende zu gelangen.
An den Anfang.

Aber bald sog einen der Weg ein, die
weichen Pfoten nahmen dich
stückweise, auf, und auseinander,
                      für die Reise innerhalb des Blitzes.

Jede Nacht redeten unter dem Fenster
die Hunde. Die fremde, sanft klingende
Spreche von Reise-
Geheimnissen. Niemals hast du sie erlernt.


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